Bildnisse aus der Geschichte

Ein Album in Birmingham

Von Werner Habicht.

Sogar der Times vom 5. Mai 1878 war es eine Meldung wert: Der Shakespeare-Bibliothek in Birmingham war ein wertvolles Präsent zugedacht – ein kunstvoll aufgemachtes Album mit Porträts und Autogrammen von Persönlichkeiten, die sich um die Vermittlung und Pflege Shakespeares in Deutschland verdient gemacht hatten. Zusammengestellt und gestiftet hat es der Berliner Privatgelehrte Friedrich August Leo, Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft und nachmaliger Herausgeber des Shakespeare Jahrbuch von 1880 bis 1898.

Die Birminghamer Shakespeare-Bibliothek war 1864 aus Anlaß des dreihundertsten Geburtstags des Dichters gegründet worden, zum dauerhafteren und lebendigeren Gedenken als das seinerzeit geforderte, geplante und vorerst verworfene Denkmal aus Erz. Sie wurde 1868 eröffnet, untergebracht in der Birmingham Central Library, wo sie heute als eine der weltweit bedeutendsten Shakespeareana-Sammlungen fortbesteht. Schon recht früh, wohl 1876, verbrachte dort der besagte F. A. Leo einen mehrwöchigen Forschungsaufenthalt. Beiläufig zeigte ihm dabei der Bibliotheksdirektor Samuel Timmins einige wenige vorhandene Bildnisse von Deutschen, die im Zusammenhang mit Shakespeare bekannt geworden waren, und äußerte den Wunsch nach Vermehrung. An dessen ausführliche Erfüllung machte sich Leo bald nach seiner Rückkehr, voller Dankbarkeit für die ihm in Birmingham erwiesene Gastfreundschaft. Er faßte die Idee, "der dortigen Shakespeare-Bibliothek ein Album zu stiften, in dem Alles vertreten wäre, was in Deutschland, auf irgend einem Gebiete des Schaffens, in hervorragender Weise in Beziehung zu Shakespeare getreten wäre", wie er in einem Rundschreiben formulierte. Mit diesem wandte er sich an alle erdenklichen, durch ihre Beiträge zur Shakespeare-Rezeption bekannte Gelehrte, Übersetzer, Schauspieler, Komponisten und bildende Künstler mit der Bitte, eine aktuelle Photographie samt eigenhändiger Unterschrift für den edlen Zweck zur Verfügung zu stellen.1

Sicher nicht alle, aber doch viele von ihnen entsprachen mehr oder weniger bereitwillig dem Ansinnen, wie aus Leos erhaltener, jetzt in der Folger Shakespeare Library (Washington, D.C.) verwahrter Korrespondenz hervorgeht. Bisweilen mochte es geduldigen Zuredens bedurft haben. Wolf Heinrich Graf Baudissin zum Beispiel verwies auf die weit über ein Menschenalter zurückliegende Zeit seiner Beteiligung an der Schlegel-Tieck-Übersetzung, aus der er allenfalls über eine alte Miniatur-Lithographie verfüge, ließ sich dann aber doch dazu bewegen, sich einer photographischen Prozedur zu unterziehen, gerade noch rechtzeitig vor seinem Ableben (†1878).2 Im Frühjahr 1878 war das Album hergerichtet und mit einem eigens in Auftrag gegebenen Einband versehen. Als ein Glanzstück der Buchbinderkunst wurde es zunächst im Berliner Gewerbemuseum ausgestellt. Am 5. April kündete Leo es dem Bibliotheksdirektor Timmins an: "I send [the photo portraits] to you with the Album which I have ordered for this purpose and which I hope the Committee of the Shakespeare Library at Birmingham will be kind enough to accept from me." Tatsächlich übersandt wurde es am 4. Mai über den Buchhändler Truebner in London. Überschwenglich würdigte daraufhin auch die lokale Presse den Empfang der stattlichen Gabe.3

Nur wenige Monate danach, am 11. Januar 1879, geschah es freilich, daß die Birmingham Central Library von einem Brand verzehrt wurde, verursacht durch den unsachgemäßen Versuch eines Arbeiters, die eingefrorene Wasserleitung aufzutauen. In den ersten Presseberichten herrschte angesichts der lodernden Bibliothek mit ihren 50.000 Bänden das blanke Entsetzen vor, wobei namentlich die Zerstörung der in der Shakespeare-Bibliothek bislang gesammelten 8.000 Bände und sonstigen Materialien als nationale Katastrophe galt: "A monument that promised to be imperishable" war von den Flammen in einer einzigen Stunde vernichtet worden. Dabei wurde das unlängst von Leo gestiftete Album als besonders schmerzliches Beispiel hervorgehoben. Auch der Katastrophenbericht in The Times vom 14. Januar 1879 stimmte ein in die Klage ob des Verlusts gerade dieser "costly collection of German portraits, which were unique". Doch schon am 13. Januar wußte die Birmingham Daily Post auch Tröstliches zu vermelden. Kein Geringerer, so wurde berichtet, als der Bürgermeister von Birmingham persönlich, den die Nachricht vom Feuer während eines Banketts im Rathaus ereilte, war unverzüglich mit etlichen seiner festlich gewandeten Gäste herbeigeeilt, um sich tatkräftig an Rettungsaktionen zu beteiligen, wobei es ihm gelungen war, eine Anzahl von Bänden der Shakespeare-Bibliothek den wütenden Flammen zu entreißen. Darunter befand sich, wie wiederum besonders betont wurde, das Leo-Album. "This particular gift has escaped the flames", hieß es jetzt, und dies wurde als ein gutes Omen gewertet. Das sollte sich als berechtigt erweisen. Denn die Kunde vom Bibliotheksbrand löste eine Welle der internationalen Hilfsbereitschaft aus und veranlaßte Autoren, Verleger, Privatpersonen u.a. zur reichlichen Schenkung von Freiexemplaren, was den künftigen Ausbau der Shakespeare-Bibliothek erst ermöglichte.

Seitdem schlummerte Leos restauriertes Album wohlverwahrt im Verborgenen.4 Von seinem einstigen äußeren Glanz hat es wohl einiges verloren; doch es bleibt ein imposantes Dokument seiner Zeit. Das gilt schon für die Dimensionen des Bandes. Er mißt 36 mal 47,5 cm im Querformat, ist fast 10 cm dick und 16 Kilogramm schwer. Das enorme Gewicht rührt hauptsächlich vom metallenen Einband. Dieser ist reich mit vergoldeter Ornamentik verziert. Oben ist der Titel eingraviert: "German Shakespearians / in Science, Literature and Art", unten die Widmung: "To the Shakespeare Memorial Library / as a token of gratitude for kind hospitality / From Frederick Augustus Leo." In der Mitte ist eine 10 mal 15 cm große, galvanoplastisch hergestellte, ursprünglich versilberte Nachbildung der Grabmal-Büste Shakespeares eingefügt, modelliert vom Berliner Bildhauer H. Bauch und hergestellt in der elektro-metallurgischen Anstalt L. Wolter. Für Goldschmiedearbeiten war das Atelier Gebr. Friedländer zuständig, für Bindearbeiten das Atelier W. Collins, alle Berlin.5 Von diesem aufwendigen Einband fest zusammengehalten sind 40 starke Kartons mit Verzierungen und Goldschnitt. In sie sind insgesamt 109 Photographien eingelassen, abwechselnd in je zwei und vier Fenster pro Blatt, den unterschiedlichen Formaten der Bilder entsprechend. Die rückseitigen Fenster sind offen und geben dort Namenszüge der Abgebildeten frei. Ein Gesamtverzeichnis in Leos Handschrift ist vorn eingeklebt.

Den Anfang machen Ablichtungen bekannter Bildnisse bereits historischer Größen. Auf dem ersten Blatt prangen Goethe und Schiller, denen bekanntlich Shakespeare als "dritter deutscher Klassiker" längst beigesellt worden war, gefolgt von Lessing, Wieland, Herder, A.W. Schlegel, Ludwig Tieck und J.H. Voß. Aber die Mehrzahl der – nach damaligem Stand der Photographie durchaus qualitätsvollen – Porträts verewigt Zeitgenossen Leos aus dem mittleren 19. Jahrhundert. Da sind Dichter und Shakespeare-Übersetzer wie F. Freiligrath, K. Simrock, W.A.B. Hertzberg, O. Gildemeister, F. Bodenstedt, A. Böttger oder Paul Heyse. Zahlreicher sind die Gelehrten und Kritiker, deren Shakespeare-Forschungen von sich reden machten, wie H. Ulrici, G. G. Gervinus, N. Delius, F.A.T. Kreyssig, G. Rümelin, F.T. Vischer, A. Cohn, R. Genée, A. Schmidt (Verfasser des Shakespeare Lexicon), J.L. Klein (Autor einer umfänglichen Geschichte des Dramas) und andere mehr, darunter prominente Vertreter der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft wie W. Oechelhäuser oder A. Loën. Am üppigsten jedoch sind Schauspieler und Regisseure vertreten, die bei Shakespeare-Aufführungen geglänzt hatten. Auch da wird in die Geschichte der deutschen Bühnenpräsenz des Dramatikers geleuchtet, vertreten etwa durch F.L. Schröder, Ekhof, Iffland oder Seydelmann. Doch die lebenden Akteure der Zeit mit mehr oder weniger dauerhaft klingenden Namen scheinen besonders gern treffliche Photos angeliefert zu haben, auf denen sie zum Teil in den Kostümen posieren. T. Döring, L. Dessoir sowie Emil, Eduard und Otto Devrient sind nur einige von vielen. Nur in dieser Kategorie finden sich auch weibliche Porträts, z. B. von Marie Seebach, Louise Hettstedt oder Auguste Crelinge. Vertreten sind auch Theaterdirektoren wieDingelstedt von oder Laube. Nicht zuletzt findet man bildende Künstler, die sich an Shakespeare-Galerien beteiligten, wie Menzel, Piloty oder Kaulbach, sowie Komponisten, von denen Shakespeare-Vertonungen stammen, von Schubert und Mendelssohn über Taubert bis zu Max Bruch.

Das alles mag eine von allerlei Zufällen diktierte Auswahl sein, welche die Personalgeschichte der deutschen Shakespeare-Rezeption auch aus damaliger Sicht bei weitem nicht vollständig repräsentiert und auch einiges ephemer Gebliebene enthält. Und doch handelt es sich um eine ungewöhnlich reichhaltige Bilddokumentation aus jener Zeit der noch relativ jungen Photographie, die Einblicke in die Konstitution der kulturtragenden Schichten gewährt und somit von historischem und soziologischem Interesse ist. Leider ist dann ihre systematische Ergänzung und Erweiterung ausgeblieben.

Zitierhinweis:
Habicht, Werner, "Bildnisse aus der Geschichte der deutschen Shakespeare-Rezeption: Ein Album in Birmingham", Shakespeare Jahrbuch 141 (2005), 150-157.

 
  1. Eine Abschrift des Rundschreibens befindet sich in der Birmingham Shakespeare Library und ist, zusammen mit zwei eigenhändigen Briefen Leos an Timmins vom 5. April und 3. Mai 1878, welche die Übersendung des Albums ankündigen, diesem jetzt beigeheftet. Diesen Schriftstücken sind einige der nachfolgenden Mitteilungen entnommen.Zurückspringen
  2. Briefe von Graf Baudissin an Leo vom 17. und 20. Juni 1877. Folger Shakespeare Library, sig. Y.c.1506 (1-2).Zurückspringen
  3. So in der Birmingham Daily Post vom 10. Mai 1878.Zurückspringen
  4. Im gedruckten Katalog – A Shakespeare Bibliography: A Catalogue of the Birmingham Shakespeare Library, ed. by W. Frederick. 7 Bde. (London: Mansell, 1971) – ist das Album nicht auffindbar. Daß ich es nach langer Suche schließlich einsehen konnte (Akzessions-Nr. 132 093), verdanke ich der kundigen jetzigen Bibliothekarin Niky Rathbone.Zurückspringen
  5. Angaben auf der Innenseite des hinteren Einbanddeckels.Zurückspringen